Die Ausgangslage war höchst seltsam, ich fühlte mich eingesperrt wie alle anderen auch, ärgerte mich über die ignoranten Nachbarn und hatte einen Ohrwurm. Alpinistisch nicht unerfahren und psychiatrisch gebildet, wie ich mich fühle, hätte ich natürlich an dieser Stelle eine Abhandlung über die verschiedenen Manifestationsformen des Hüttenkollers schreiben können, wäre da nur nicht der Ohrwurm gewesen. „Non abbiate paura!“[1] hallte immer und immer wieder der Appell Karol Wojtylas, nein, nicht über den Petersplatz, sondern durch meinen Kopf. Diagnose eindeutig: akute exogene Belastungsreaktion, bedingt durch Quarantäne, hyperaktive Nachbarn, Bewegungsmangel sowie dauerhaften Stumpfsinn im Fernsehen. Paul Watzlawick [2] fiel mir ein und seine rosa Elefanten Storys. Nicht an rosa Elefanten denken, verschafft denselben unwiederbringliche Gegenwart im Kopf. Angeblich verscheucht immerwährendes Klatschen die Elefanten aus dem Park, ich bin mir sicher, dass es funktioniert, schließlich habe ich noch nie Elefanten im Park gesehen, solange einer klatscht, die Frage ist vielmehr: Nützt Klatschen gegen einen Ohrwurm, der ja eigentlich nicht im Ohr, sondern sogar direkt im Kopf sitzt? Eines schien mir recht bald klar: Mein Ohrwurm aber war eine Art rosa Elefant, der mir etwas sagen wollte, der eindeutig wollte, dass ich mich ernsthaft mit ihm beschäftigte, statt ihn zu verscheuchen.
Gut also, es sollte nichts Religiöses sein, was dieser penetrant haftende Einfall von mir wollte, leidenschaftlich konfessionslos, wie ich zu sein denke, wäre mir der Gedanke, ich würde unter dem Eindruck einer neuzeitlichen Pestilenz plötzlich religiös, unerträglich. Fest steht auch, ich kann es noch gut erinnern, dass mich damals dieser Ausspruch tief beeindruckt hat, bewusst wohl deshalb, weil er meine damalige Grundhaltung der Furchtlosigkeit im Leben bestärkt hat, unbewusst, das kann ich heute aus der Retrospektive gut sagen, weil ich als junger Mensch eben am Ende des Studiums angelangt, das Berufsleben vor mir, doch voller gut verdrängter, tiefer Lebensangst war. Heute getraue ich mich mit einiger Sicherheit zu sagen, dass diese Lebensangst wohl zur affektiven Grundausstattung jedes Menschen gehört, gründet sie doch auf die Ahnung des Ausliefert-Seins und der Machtlosigkeit, als menschlicher Bedingung. Das lamentierende Päpstlein in meinem Kopf dürfte aber zu klug sein, zu glauben, wir könnten einen Grundbaustein menschlichen Seins durch eine machtvolle Geste der Ermutigung einfach loswerden. Es geht wohl eher um eine Aufforderung, mit dieser dumpfen, grund- und bodenlosen Angst, welche sich gerade, Corona sei Dank, rings um mich zeigt und welche sich offenbar auch in mir befindet, etwas Lebendiges und in die Zukunft Gerichtetes anzufangen.
Hier kommt die Furcht ins Spiel. Es ist klug und heilsam, sich vor einer realen Gefahr, wie zum Beispiel einer pandemischen Seuche, zu fürchten. Es ist aber weder klug noch in irgendeiner Weise heilsam, in bodenlose Angst zu verfallen und dabei am Ende auf das kluge Sich-Fürchten zu vergessen. Angst ist ein reiner Affekt, welcher mich von der Welt abschneidet und im Grunde auch zu mir selber nicht spricht, er erlaubt kein wie immer geartetes Räsonnement. Furcht hingegen ist angetan, mich selbst und alles was mir wert ist vor real drohender Gefahr zu schützen. Sie spricht zu mir, fordert mich heraus und hält mich in Beziehung zu meiner Welt, sie scheint somit das gerate Gegenteil der Angst zu sein, welche auch Wojtyla gemeint haben musste. Damals wie heute hatten und haben wir jeden realen Grund uns zu ängstigen, wenn diese Ängstigung aber in Resignation und Gleichgültigkeit der Welt und mir selbst gegenüber stecken bleibt, bleiben wir auch in der grund- und bodenlosen Angst stecken wie in einem Morast. Die Versuchung, dieser resignativen Variante nachzugeben ist verständlich, bringt sie uns doch in eine Position, da wir angesichts äußerer Übergewalten, scheinbar jedwede Eigenwirksamkeit und Verantwortung ad acta legen können.
Unweigerlich treten in einer solchen Atmosphäre die Welt-Erklärer auf den Plan. „Der Baby-Elefant hilft gegen den Lock-Down“, Kommentar des wissenschaftlichen Auskenners im Staatsfernsehen, scheint auch nicht viel besser als: „Klatschen vertreibt die Elefanten aus dem Park“. Allemal helfen solche Geistesblitze, zumindest irgendwie durch die Angst, weil sie nicht einer gewissen Komik entbehrten, wenn nicht die Erkenntnis, welchen „Experten“ wir da ausgeliefert sind, glatt zum Fürchten wäre. Immerhin wenigstens gutes, vernünftiges Fürchten, welches in diesem Falle zu kritikvoller Haltung und wirklicher Eigenverantwortung einlädt. Das schließt zivilen Ungehorsam ein und auch bewussten Verzicht, vor allem letzterer ist uns natürlich unangenehm und lässt uns die Position des resigniert braven, verängstigten und deshalb obrigkeitshörigen Bürgers einnehmen. Die Rechnung geht aber, zumindest in emotionaler Hinsicht, nicht auf, denn die verkappten Affekte welche uns in der Folge umtreiben, machen uns am Ende vielleicht kränker als die postulierte Seuche. Gut, das lästige Päpstlein in meinem Kopf, denke ich durch intensive Befragung desselben, was es denn von mir wolle, zufrieden gestellt zu haben. Die Umsetzung der Botschaft wird nicht einfach werden. Keine Angst zu haben ist wohl vor allem eine Frage des Vertrauens, das gibt es leider auch nicht in Tablettenform, sondern will sorgsam erarbeitet werden, in seiner aktiven wie in der passiven Form. Die Rede ist vor allem von Selbstvertrauen aber auch vom Vertrauen in Andere. Wenn mein Unbewusstes schon beliebte, einen Papst zu strapazieren, komme ich nicht umhin, zuzugeben, dass in der Aufzählung von Selbst- und Weltvertrauen, noch das viel strapazierte Gottvertrauen fehlt. Den metaphysischen Diskurs, welcher sich aus dieser Erkenntnis ergeben würde, will ich mir und Ihnen ersparen. Eines nur: Gottvertrauen, was immer es sei, scheint mir eine transzendente Verlängerung dessen zu sein, was ich oben mit Selbst- und Weltvertrauen zu bezeichnen versucht habe. Es kann niemals unsere subjektive Arbeit an uns selbst und unserer Beziehung zur Welt ersetzen, in diesem Falle wäre es nichts als Ausflucht aus der mühsamen Arbeit, des sich Erklärens. Das genau bin ich persönlich gerade dabei, aus „Corona“ zu lernen. Wir sind gerade allesamt aus unserer selbstgenügsamen Bequemlichkeit gerissen und niemand sollte allen Ernstes glauben, wir könnten eines Tages da wieder anfangen, wo wir dereinst aufgehört haben.
Die Zäsur hat eine Phase des heilsamen Nachdenkens bewirkt, wir brauchen zwar dringend eine Impfung, aber bitte nur gegen das Virus und nicht gegen das Innehalten, Nachdenken und die längst überfällige Veränderung.
[1] „Non abbiate paura!“, „Habt keine Angst!“. Mit diesen Worten begann Papst Johannes Paul II. sein Pontifikat in Rom, in das er 1978 hineingewählt wurde. Es waren Worte der Ermutigung und des Aufbruchs in neue Zeiten.
[2] Paul Watzlawick (* 25. Juli 1921 in Villach, Kärnten; † 31. März 2007 in Palo Alto, Kalifornien) war ein österreichischer Kommunikationswissenschaftler, Psychotherapeut, Philosoph und Autor.