Über die Lust am Jenseitigen

Auszüge aus dem 2. Kapitel „Versuch einer psychoanalytischen Erklärung - über die Lust am Jenseitigen“

des noch nicht veröffentlichten Buches:

„Subjekt Welt - Versuche zur menschlichen Ökologie“

Meine Frage dieses Kapitels war ja, ob es eine psychoanalytisch begründbare Erklärung für die relative Verzweiflung vieler Menschen gibt, angesichts der schier unlöslichen ökonomischen, ökologischen und politischen Probleme, welche wir offensichtlich haben. Mehr noch wollte ich eigentlich erfragen: Kann es sein, dass auch die Psychoanalyse einen Beitrag zu möglichen Lösungsansätzen leisten kann?

[…].

Anno 1919[1], ein paar Monate nach dem Zusammenbruch der Monarchie, dem vorläufigen Ende eines Weltenbrandes, vollendete Freud den Entwurf zu „Jenseits des Lustprinzips“.  Dem Vernehmen nach hatte Freud in der Zeit des ersten Weltkrieges begonnen, sich mit Aggression und Destruktivität und dem Dualismus von Eros und Thanatos auseinanderzusetzen. Für ihn war Lust die Abwesenheit von Unlust, er erklärte damit implizit den Mangel, also die Abwesenheit von Lust, zum Habitualzustand. So soll zunächst also nichts mehr befragt werden als jenes, was Freud wirklich gemeint haben könnte, wenn er von Lust und einem Prinzip sprach, welches der Lust folgend, so gut wie alle differenzierteren psychischen Vorgänge erklären helfen sollte. […].

Die Frage Freuds nach dem „Jenseits des Lustprinzips“ ist an einer historischen Stelle gestellt, da ein Kontinent über Jahre in Entbehrung gelebt hatte und es noch tat. Es ging um konkreten Hunger, Mangel an Allem und Jedem, die Frage nach dem Triebwunsch würde „in Zeiten wie diesen“ wohl alles, nur nichts Sexuelles zu Tage fördern. Die verkürzende Gleichsetzung von Trieb, Erotik und Lust ist sicherlich nicht Freud alleine anzulasten, dennoch war sein Werk angetan diese zu fördern. Die oftmals der Freud’schen Analyse nachgesagte „Sexbesessenheit“, also die Rückführung von praktisch Allem, auf einen ursprünglich sexuellen Impuls, stammt sicherlich aus der Perzeption von Freuds Frühwerk, welches, verstehbar aus der „Hysterie Analyse“, tatsächlich solche Züge hat. Ökologie war schon als Begrifflichkeit in der Zeit nach dem ersten Weltkrieg nicht existent. Sehr wohl aber befasste sich Freud mit äußerer und innerer Ökonomie, er meinte damit vor allem eine Ökonomie der Lüste. […].

Das Lustprinzip im Sinne seines modernen Erfinders war auf positive Selbstwahrnehmung hin ausgerichtet. Unlust im Sinne eines sublimen, wenn man will, „höheren“ Ziels, ging da gerade noch durch. Ich spreche von Entbehrung um Gottes- oder des Kaisers Willen, Keuschheit aus edlem Mut, Selbstgefährdung aus Heldentum und ähnliche Anwandlungen, welche wir heute nur noch aus militanten Heldenepen oder islamischem Fundamentalismus kennen. Im Gegensatz dazu scheint das Lustprinzip der Post-Moderne auf eine Wahrnehmung des Selbst schlechthin fixiert zu sein. Das bedeutet aber ebenfalls, dass auch durchwegs Unlustiges für dieses Ansinnen herhalten muss, somit also auch die Anwesenheit von Unlust der Selbstwahrnehmung dient, so ferne sie nur intensiv genug ist und so auf verkappte Weise wieder zur Lustquelle wird. In der psychoanalytischen Gemeinde war der Umgang mit sexualisiertem Konsum ein durchwegs entrüstet bis moralisierender. Die pathologischen, ja destruktiven Seiten konnten gesehen werden, nicht aber deren gesellschaftspolitische Relevanz. Vor allem aber wurde nach meiner Wahrnehmung viel zu wenig ehrlich mit der Tatsache umgegangen, dass gerade in der puritanischen Abwehr der Konsumgier, derselben zu einer Omnipräsenz verholfen wurde, sie mit anderen Worten gerade in der Nicht-Ausgelebtheit ein besonderes libidinöses Konfliktpotential bekam. […].

Die Verknüpfung von Schuldabwehr und Lust, gelingt unter der Prämisse, dass es uns eigentlich nur darum gehe, einen Zustand der Abwesenheit von Unlust herzustellen. Der permanente, latente Schuldkomplex unserer Elterngeneration hat sich auf die unsere übertragen, die Thematiken unter welchen er bewusstwird, haben sich lediglich verändert. Unseren Eltern ging es um Krieg und Genozid, uns geht es um Umweltzerstörung und vielleicht Genetik. Die Antworten im Handeln ähneln sich sehr: Die Eltern lebten, als ob es kein Gestern gegeben hätte, wir leben als gäbe es kein Morgen. Der Preis um den das geschehen kann, ist in beiden Fällen Wirklichkeitsverlust zugunsten eines Konstruktes. Am Schnittpunkt der Nöte zweier Generationen, haben postmoderne Denkweisen eingeschlagen wie eine Bombe, da sie eine Legitimation zur phantasmatischen Ausgestaltung von Selbst- und Weltbild nahelegen. Facebook, Twitter und Wikipedia sind beweiskräftige Zeiterscheinungen, welche es ermöglichen, weltweit Sichtweisen zu verbreiten, wobei die bloße Tatsache der Verbreitung zur Folge hat, dass eine Sichtweise zur anerkannten Tatsache wird. Hier ergibt sich ganz unvermutet eine neue, alte Form des gestalterischen Lustgewinnes im Sinne der Manipulation von Selbst und Welt. Jenseits der Lust in ihrem genuinen Sinne, wartet also gerade nicht die Realität, sondern die Lust an ihrer Verwischung. […].

An dieser Stelle lässt sich recht zwanglos zu Freuds Lebenslage, zwei Jahre nach einer globalen, dumpfen Zerstörungsorgie, der letztlich jedwedes erkennbare Kalkül fehlte, herstellen. Er war mit seinem ursprünglichen Gedankenduktus des Lustprinzips an die Wand gefahren und war gezwungen, zu erkunden, was denn Jenseits dieser Wand zu suchen sei. Mit der Erkundung dieses Jenseits sind wir, wie Figura zeigt, auch heute noch beschäftigt, etwas mehr Klarheit haben wir aus der Jetzt-perspektive über die Beschaffenheit der Wand. Freud selbst hat uns mit seinem Instanzenmodell das gedankliche Werkzeug hierzu geliefert. Aus dem Blickwinkel der modernen Objektbeziehungstheorien können wir unschwer erkennen, dass der selbstredend von ihm hergestellte Bezug von Libido Theorie und Instanzenmodell nur stimmig sein kann, wenn im Individuum eine sichere Trennung von Selbst und Objekt vollzogen ist. Jenseits der Lust am Objekt sei also die Lust an einer narrativen Suche und Ausgestaltung des Selbst. Aus dieser Sicht kann es sehr leicht passieren, dass Selbst und Objekt nicht einander bedingend korrespondieren, sondern das Objekt zu einer reinen Repräsentanz des Selbst wird, wenn man will, ein Gedachtes. Dies wiederum ist nur möglich, wenn jenes, ebenfalls von Freud im Instanzenmodell postulierte Dritte, das korrigierende Andere, auf Dauer ausgeblendet bleibt. […].

Freud aber hatte in seiner Arbeit zwei unverbrüchliche Ansprüche, welche aus der Vogelperspektive der Theorie, nur zu leicht übersehen werden: Sein Anspruch war immer ein kompromisslos humanistischer und seine Sichtweise immer eine medizinale, seine Zielvorstellungen somit immer kurativ. Auch in seinen ganz grundlagentheoretischen und spekulativen Schriften, war er implizit immer an einer Heilmethodik interessiert. Die Kehrseite dieses Faktums war, dass er die Psyche des Menschen aus der Pathogenese, die zu beschreibenden Phänomene aus dem Mangel beschreiben musste. Erst in der Postmoderne entstand die Idee, selbst die Psychoanalyse müsse in ihrer reinen Form ein absichtsloser Erkenntnisprozess sein, welcher vieles ist, nur kein Heilverfahren. Dieser zunächst philosophische Anspruch wurde längst von der Realität eingeholt. […].

Wenn die psychoanalytische Denkschule ihre therapeutische, aber auch gesellschaftskritische Konsequenz nicht aus den Augen verlieren will, so muss sie sich in eine zeitgemäße, ihrer Klientel angepasste Form bringen, sonst degeneriert sie von einem probaten Erkenntnisverfahren, zu einer versponnen-esoterischen Sekte. Der Satz: das Wiederfinden der Identität sei selbst eine Lustquelle [2], war von Freud eigentlich als eine Erklärung des Wiederholungszwanges gedacht. Er passt, in einer anderen Bedeutung als der ursprünglich gemeinten, natürlich bestens zu Zweierlei: 

Einmal zur neu zu definierenden Form des Lustprinzips, welches sich weitgehend mit Identitätssuche und Findung deckt, zum Zweiten aber zu der Lust der Psychoanalyse als Bewegung, wieder Identität zu finden, indem sie sich den Konfliktlagen des postmodernen Menschen stellt, anstatt in Identität im Sinne von Wiederholung ein und desselben, zu verharren. [...].

Wir sehen uns also am Punkt einer wahrscheinlich endgültigen Entscheidung:

Es geht um nichts weniger als um die Wiederentdeckung der Lust an der immer wieder notwendigen Seins-Findung. Wenn sich das Individuum aufgefordert sieht, sich selbst in Allen und Allem wieder zu erblicken, ist es zunächst verführt, sich in einem narzisstischen Phantasma zu verlieren. Praktisch alle, dem modernen Menschen verfügbaren Technologien stützen diese Verführung, indem sie den Wahn von All-Erreichbarkeit, All-Machbarkeit, All-Gegenwart nähren. Wenn integrale Bewusstheit zur Selbstauflösung in jenem Sinne führt, dass sie die Selbstgrenzen gegenüber der Welt verwischt, dann bedeutet es nicht einen evolutionären Sprung, sondern Regression in ein magisches Bewusstsein, dies ist explizit nicht gemeint, aber stellt immerhin ein denkbares katastrophales Ergebnis einer solchen Entwicklung dar. [...].

Wir haben im 1. Kapitel postuliert, integrale Bewusstheit sei grundlegende Voraussetzung, um in und mit einer globalisierten Gesellschaft bestehen zu können. Integraler Bestandteil dieses Bestehens sei auch die Bewältigung dessen, welches wir die „ökologische Katastrophe“ genannt haben. Das Phänomen das mit diesem Schlagwort bezeichnet wird, umfasst ein Misslingen auf verschiedensten Ebenen des gesellschaftlichen Lebens aber auch die Befürchtung, der Mensch als Spezies könnte mit den ökologischen Herausforderungen in einem engeren, biologischen Sinne nicht mehr fertig werden, so wie dies erstmals im Bericht über die Grenzen des Wachstums gezeigt wurde. Ebenso haben wir bereits behauptet, für das Individuum sei es sehr wohl möglich, durch sein jedwedes subjektives Verhalten, die beschriebenen globalen Prozesse zu beeinflussen. 

Daraus ergibt sich eine augenscheinlich absurde Situation:

Wenn wir mögliche Konsequenzen aus diesem Erkennen in Extrempositionen bedenken, so ergibt sich daraus entweder Hybris: „Ich bin ganz wichtig, mein Denken und Verhalten ändert die Welt.“ Oder aber tiefste Demut: „Wenn mein Denken und Tun es ist, welches in Wahrheit die Welt retten soll, so muss sie verloren sein, denn ich bin machtlos und schwach.“ Beides kann in der gesagten Form aber nicht als stimmig erkannt werden.

Hier scheint mir aber der gedankliche Knackpunkt zu liegen, da psychoanalytische Denkweisen weiterhelfen könnten:

Indem Selbst sich in der Welt sucht, entdeckt es die Welt. Dies umschreibt nach meinem Dafürhalten auch das Wesen der Psychoanalyse. Das Subjekt muss sich in seinem Werde-Prozess zunächst fast überdimensional wichtig nehmen und ins Zentrum seiner Welt stellen, damit es mit seinem „Die Welt Bewirken“ experimentieren kann. Die sichere Erkenntnis, dass dies ein Prozess des Austauschens ist, dass also Bewirken und Bewirkt Werden in einem ständigen Wechselspiel stehen, das zwar nach Ausgleich strebt, aber diesen nie stabil erreichen kann, ist dann unausbleiblich. Indem die Psychoanalyse redlich versucht, dem Subjekt sich selbst zu erklären, verhilft sie uns zu einem Weltbild, das es uns erlaubt, ganz bei der Subjektivität verbleibend, in aller Kleinheit und Demut, dem Universum da draußen, mehr und mehr von seinen Geheimnissen zu entlocken. [...].

Vielleicht geht es wirklich um die Erfindung eines neuen Lustprinzips:

Jenseits des Lustprinzips, sei also eine neue, vielleicht reifere Lust? Mit Freuds genialer Idee, es sei per se lustvoll, sich selbst zu entdecken, bekommen wir eine gute Ahnung in welche Richtung unser Suchen gehen könnte. Hier stellt sich uns allerdings einmal mehr ein gedankliches Hindernis entgegen, welches uns ebenfalls der Altvater der Psychoanalyse beschert hat: Der Antagonismus von Lustprinzip und Realität. Wenn wir den geforderten, lustvollen Prozess der Selbstfindung gleichsetzen wollen mit Zugewinn von subjektiver Realität, so kann er in der Paradigmatik Freuds nicht ein Lustvoller sein. Die angeblich neue Lust auf Wirklichkeit ist in Wahrheit alles andere als neu, wir kennen sie längst als die kindliche Lust am Erfahren der Welt. Es fällt uns, wahrscheinlich am Ende eines mentalen Bewusstseinstages angelangt, sichtlich schwer, in dieser Art längst fälliger Verkindlichung nicht nur Progression, sondern einen notwendigen evolutionären Schritt zu erkennen. Die klassisch psychoanalytische Sichtweise ist an dieser Stelle am Ende ihrer Möglichkeiten angelangt, weil sie in ihrem Rationalismus uns Verkindlichung immer als regressives Abwehrmuster eines Konfliktes erklärt hat. Dies ist hier explizit nicht gemeint, vielmehr ist eine Bewusstheitskultur gemeint, welche stärker als je zuvor bereit ist, emotionale und intuitive Inhalte auf einer hierarchisch gleichen Ebene wie den Intellekt anzusiedeln, als pluralistischen und im Weiteren integralen Bestandteil umfassender Evidenz. […].

Es scheint einleuchtend, ich beziehe mich hier bewusst auf den oben eingeführten Begriff der kindhaften Evidenz, dass Introspektion, so ferne sie nach Prinzipien erfolgt, wie sie unter anderem auch die Psychoanalyse vorgegeben hat, immer auch ein Schlüssel zur Erkenntnis und Lösung, zum Beispiel ökologischer Probleme sein wird. Ich begründe das hauptsächlich damit, dass ökologische Probleme soweit wir das heute überblicken, stets aus einem Konflikt zwischen menschlichen Bedürfnissen und natürlichen Gegebenheiten sind. Natürliche Gegebenheiten können wir erforschen und in ihrer Gegebenheit anerkennen, welches in zweiter Linie ein psychologischer Akt ist. Unsere Bedürfnisse können wir introspektiv erkennen, von mir aus empirisch erfassen, in jenen Teilen wo wir durch sie aber auf Kollisionskurs mit der Natur geraten, müssen wir sie verändern. Dies aber ist ein ausschließlich psychologischer Vorgang, denn der Mensch hätte keinen wie immer gearteten Trieb mehr, sich selbst oder die Natur zu zerstören, so ferne es ihm gelingen würde, in seine kindhafte Vernunft hinein zu evolutionieren. Wie ich mir den hier angedeuteten progressiven Rückgriff ganz konkret vorstelle, möchte ich versuchen im Folgenden näher zu erläutern. […].

 

 



[1] Aus aktuellem Anlass wäre an dieser Stelle noch zu bemerken, dass just in den Jahren 1918-19 die verheerendste Pandemie der neueren Geschichte, die so genannte Spanische Grippe, ihre Bahn über die Welt zog. Alleine in Österreich hat sie 27000, weltweit an die 40 Mio. Menschenleben gekostet.

[2] Es ist sinnfällig, dass die Wiederholung, das Wiederfinden der Identität, selbst eine Lustquelle bedeutet.“ Freud in „Jenseits des Lustprinzips“ Kap. II